Erhaltungszucht vs. Leistungszucht
Seit der Gründung des VEB setzen wir uns (Vorstand, Experten und Expertinnen) mit den Zuchtzielen des Bündner Oberländer Schafes auseinander. Anfänglich war uns bei der sehr begrenzten Anzahl Tiere vor allem die Erhaltungszucht wichtig. Mit dem stetigen Wachstum der Anzahl der Herdebuchtiere spielten auch immer mehr Ansätze der Leistungszucht eine grössere Rolle.
Dabei sind wir immer wieder mit der Frage konfrontiert: Schadet die Leistungszucht dem Erhaltungsziel oder wie viel Leistungszucht können wir uns leisten?
An einem Expertenweiterbildungstag thematisierten wir diese Fragen, und luden Markus Arbenz (ehemaliger Geschäftsführer der Pro Spezie Rara) als Referent ein.
Text von Markus Arbenz
Erhaltungszucht
Das Wesen der Zucht bedeutet ein Denken von Generation zu Generation. Reine Erhaltung würde heissen, die nächste Generation sei genau gleich wie die jetzige.Das Ziel der Erhaltungszucht ist folglich nicht blosse Erhaltung sondern Vielfalt. Diese Vielfalt verlieren wir aber durch Inzucht und durch Verlust von Eigenschaften z.B. durch Auslese. Andererseits entsteht Vielfalt durch Mutation und Import von Eigenschaften aus anderen Rassen. Grundsätzlich geht Zucht immer vorwärts und nicht rückwärts. Der Referent ging in seinen Ausführungen sogar so weit festzustellen, dass der Versuch einer Rückzüchtung der Bündner Oberländer Schafe zum Tavetscherschaf im engeren Sinne gar nicht möglich sei.
Jede zukünftige Generation ist zwangsweise anders als die vorhergehende. Wenn überhaupt können einzelne Schafe durch Zufall besonders viele Eigenschaften von Tavetscherschafen zeigen, aber tatsächliche Tavetscherschafe können wir auch durch Erhaltungszucht nicht hervorbringen.Ein wichtiges Ziel der Erhaltungszucht ist die Nachhaltigkeit, die man mit verschiedenen Instrumenten erreichen kann. Da die Vielfalt jeder Rasse über mehrere Generationen hinweg immer enger zu werden droht, sollte dem bewusst entgegengesteuert werden, indem eine Zuchtauslese aufgrund von Abstammungsdaten gemacht wird, Inzucht streng vermieden wird und seltene Eigenschaften gefördert werden. In Bezug auf Letzteres hob Markus Arbenz die wichtige Neuerung der genetischen Präsenz hervor, die von Pro Specie Rara entwickelt worden ist.
Leistungszucht
In der Zucht von Leistungsrassen streben wir nach einem einheitlichen und mehr oder weniger engen Zuchtziel. Je einfacher ein solches Ziel ist, desto schneller ist es erreichbar. Wesentlich schwieriger zu erreichen sind negativ korrelierte Ziele, also Ziele, die sich gegenseitig fast ausschliessen.
Beispielsweise können wir verhältnismässig einfach auf das Ziel der Milchleistung oder das Ziel der Langlebigkeit hin züchten, auf beides zusammen aber nur sehr eingeschränkt.Das Hauptinstrument der Leistungszucht ist die Selektion von besonders leistungsstarken Tieren. Da aber jedes Tier eine Kombination von Eigenschaften zeigt, die im unterschiedlichen Ausmass von Genetik und Umwelt abhängen, wird bei der Leistungszucht insbesondere auf jene Eigenschaften das Augenmerk gerichtet, die genetisch weitergegeben werden. Die grosse Kunst der Leistungszucht ist es dabei, die Tiere mit dem grössten Zuchtwert auszulesen.
Natürliche Selektion funktioniert anders
Die in der Naturwelt ebenfalls vorhandene Selektion folgt anderen Gesetzen als die Leistungszucht, denn in der Natur überleben jene Tiere am ehesten, die am besten an ihren Lebensraum angepasst sind. Die grosse Vielfalt der verschiedenen Lebensräume garantiert dabei eine grosse Vielfalt der Tiere.
Gute Leistungen im Sinne vermarktbarer Produkte haben in der Natur jedoch keinen Wert. Daher kommt auch die oben bereits angesprochene Tatsache, dass die Kombination der Zuchtziele Leistung und Robustheit meist schwerlich miteinander vereinbar ist.
Erhaltung versus Leistung
Bis zu einer gewissen Mindestanzahl männlicher und weiblicher Tiere sollt die Erhaltungszucht gegenüber der Leistungszucht dominant bleiben. Über diese Anzahl sind wir im VEB durch die jahrelange züchterische Arbeit allerdings schon längst hinausgewachsen. Bei der Berechnung der Mindestanzahl spielt die Anzahl der männlichen Tiere eine besondere Rolle, die spezielle Risiken und Chancen enthält: Durch die wesentlich kleinere Anzahl zuchtwürdiger Widder kann sehr leicht ein wichtiger Teil der genetischen Basis aussterben, andererseits lässt sich durch den Einsatz seltener Widder aber eine seltene Genetik auch leicht und effizient fördern.
Sobald die oben genannte Mindestanzahl an Tieren wie bei uns im VEB erreicht ist, werden Selektionsentscheide vertretbar und üblich. Beispielsweise können viele Halter nicht immer alle Tiere der nachwachsenden Generationen behalten, weil sie nicht genug Platz haben. Man wird also gezwungen auszuwählen, welche Tiere weiter gezüchtet werden und welche Tiere abgetan werden müssen. Hier fängt die Leistungszucht an, eine gewisse Rolle zu spielen.
Unter Leistung verstehen dabei viele Halter etwas Unterschiedliches: Der eine legt mehr Wert auf zutrauliche Tiere, der andere auf Farben, Behornung oder ähnliches. Jeder, der nicht sämtliche Tiere zur weiteren Zucht am Leben hält, betreibt folglich Leistungszucht.
Rassestrategie
Aus Sicht von Markus Arbenz sollte jede Organisation ein Leitbild haben. Dies könnte z.B. so aussehen: Wir sind ein Netzwerk von Haltern, die das Bündner Oberländerschaf nachhaltig züchten und das genetische und kulturelle Erbe pflegen. Die Zucht der Bündner Oberländerschafe soll nachhaltig sein und daher eine gewisse Mindesttieranzahl aufweisen. Die Erhaltung der Vielfalt und des Charakters mit einer gleichzeitigen Anpassung an neue Haltungsformen steht dabei im Zentrum der züchterischen Tätigkeit. Als engeres Zuchtziel existiert ein Rassestandard der die erwünschten Tiereigenschaften ausführlich beschreibt. Der Referent empfiehlt dabei, die Erhaltungszucht als Pflicht und – in soweit sich Spielraum ergibt – die Leistungszucht als Kür anzusehen. Dazu braucht es auf jeden Fall genügend Widder, bei deren Auswahl wiederum die genetische Präsenz berücksichtigt werden sollte. Hier stellen finanzielle Förderbeiträge durchaus eine diskutable Lösung des Widderhaltungsproblems dar.Bei den anderen Tieren sollte in Anbetracht der derzeitigen Gesamttierzahl durchaus eine konsequente Auslese getroffen werden.
Dafür eignen sich besonders Tierschauen, bei denen Bewertungen und Diskussionen am Tier auf der Grundlage des Rassestandards durchgeführt werden. Prämierungen von Einzeltieren mögen vielleicht einzelne Züchter motivieren, züchterisch haben aber sie allerdings meist wenig Wert.In der Diskussion über diesen interessanten Vortrag wurde insbesondere über die konkrete Anwendung dieser Denkanstösse gesprochen.
Ein wesentlicher Schritt für unsere Züchterarbeit könnte der gemeinsam mit Markus Arbenz entwickelte Vorschlag darstellen, zukünftig Jungwidder bereits anlässlich der ersten Beurteilung für die provisorische Herdbuchaufnahme bezüglich des Exterieurs zu bewerten, um sie eventuell via Herdbuchführer bereits vermitteln zu können.